Leseprobe aus
MEIN WEG NACH ELMIRA
von Richard Kendall
KAPITEL 1
NICHT ALLE WEGE FÜHREN NACH ROM
1969 war ich neunzehn Jahre alt. Die Veränderungen im Massenbewusstsein der USA brodelten schon seit einiger Zeit, und in einigen Fällen platzte die Blase gerade. Im November 1969 marschierten etwa 250‘000 Menschen nach Washington D.C., um gegen unsere Beteiligung am Vietnamkrieg zu protestieren, einem Krieg, der das Land selbst in Kriegsparteien gespalten hatte.
Im selben Jahr versammelten sich fast 500‘000 Menschen auf einem Bauernhof im Bundesstaat New York, um an einem Musikfestival teilzunehmen, das als Woodstock bekannt wurde. Ich war einer dieser Menschen, und obwohl es zweifellos viel Musik gab, werde ich nie die vielen Menschen vergessen, die am Straßenrand lagen, von üblen Drogentrips gezeichnet und mit vom Regen durchnässten und schlammigen Kleidern, und unter all dem schwelte das unausgesprochene Bewusstsein, dass die Hippie-Revolution, die versucht hatte, die Welt in ein Mekka des Friedens und der Liebe zu verwandeln, ihrem Ende entgegenging.
In jenem Jahr kam der Film Easy Rider auf die Kinoleinwand, in dem Peter Fonda und Dennis Hopper mit dem Motorrad in horizontaler Richtung auf der Suche nach dem wahren Amerika unterwegs waren. Neil Armstrong wählte einen vertikalen Weg und betrat als erster Mensch den Mond. Am Ende des Jahrzehnts hatte die Ideologie der 1960er Jahre ihren Höhepunkt erreicht, und innerhalb weniger Jahre würden die Hippies von gestern die Anwälte, Ärzte und Wall-Street-Broker von heute sein. Für einige war dieser Übergang relativ einfach. Für mich war der Gedanke, einen festen Job zu finden, sesshaft zu werden und mich auf das Geldverdienen zu konzentrieren unerträglich - all diese Ziele waren dem Hippie-Geist, der immer noch in mir lebte, ein Gräuel.
Während ich an meiner gegenkulturellen Haltung festhielt, wusste ich, dass ich Gefahr lief, zurückgelassen zu werden. Doch wie ich einen Platz für mich in einer Welt finden sollte, gegen die ich protestiert hatte, war ein Dilemma, von dem ich nicht wusste, wie ich es lösen sollte. Als sich das Jahrzehnt dem Ende zuneigte, hingen überall um mich herum Ungewissheiten in der Luft. Nur in einem war ich mir sicher: Ich brauchte einige Antworten, bevor ich mit meinem Leben weitermachen konnte, Antworten auf ein paar einfache, grundlegende Fragen. Fragen wie: Warum bin ich hier? Gibt es einen Gott? Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Habe ich schon einmal gelebt? Warum gibt es so viel Leid auf der Welt? Wie gesagt, nur ein paar einfache, grundlegende Fragen.
Ich suchte auf verschiedene Weise nach den Antworten. Einer der Wege, die ich ausprobierte, waren Drogen, aber die „Einsichten“, die ich während dieser scheinbar gesteigerten Bewusstseinszustände erhielt, hatten eine unangenehme Art, sich in brodelnden Brei zu verwandeln, wenn die Wirkung der Droge nachzulassen begann.
Für viele Menschen schien die traditionelle Religion zu funktionieren. Immerhin steht „Wir vertrauen Gott“ nicht nur auf einem Großteil unserer Währung, sondern ist sogar unser nationales Leitmotiv. Aber ich konnte mein Vertrauen nicht in einen Gott setzen, der ohne zu zögern die ganze Erde zerstören würde, mich eingeschlossen, wenn ich nicht seinen Regeln folgte und ihn regelmäßig anbetete.
Als ich meine Suche fortsetzte, geriet ich in eine Sackgasse nach der anderen. Das erinnert übrigens mich an einen Film, den ich als junger Teenager gesehen habe: A Hatful of Rain („Ein Hut voll Regen“ — im deutschen Sprachraum trug der Film den Titel „Giftiger Schnee“.) In diesem Film gibt es eine Szene, in der einem kleinen Jungen namens Johnny gesagt wird, dass auf magische Weise Geld in seiner Tasche erscheine, wenn er sehr hart arbeite. Also geht Johnny mit großem Enthusiasmus aufs Feld und beginnt zu graben und zu graben. Er überprüft immer wieder seine Taschen, aber zu seiner Bestürzung zeigt sich kein Geld darin. Doch Johnny gräbt weiter. Es ist ein warmer Tag, und als Johnny zu schwitzen beginnt, nimmt er seinen Hut ab und legt ihn neben sich. Dann beginnt es zu regnen und der Hut füllt sich mit Wasser, aber Johnny ist zu sehr mit dem Graben beschäftigt, um es zu bemerken. Da seine Taschen immer noch leer sind, beschließt der enttäuschte Johnny, nach Hause zu gehen. Er setzt sich den Hut wieder auf den Kopf, und als er dies tut, ergießt sich das ganze Wasser, das sich darin gesammelt hatte, über ihn. Alles, was Johnny für seine harte Arbeit vorweisen konnte, war „A Hatful of Rain“.
Und genau so begann ich mich zu fühlen.
Trotz all meiner Bemühungen, Antworten zu finden, waren meine Taschen leer und ich hatte das Gefühl, dass mir die Möglichkeiten ausgingen. Aber dann tauchte ein Hoffnungsschimmer am Horizont auf.
Ein Freund von mir, der sich auch für spirituelle Dinge interessierte, erzählte mir von diesen metaphysischen Klassen, die er zu besuchen begann, nachdem er eine Anzeige in der Zeitung gesehen hatte.
Diese Klassen wurden von einem Typ namens Marcel geleitet. Er behauptete, ein Meister okkulten Wissens zu sein. Wenn man Marcels Lehren studierte und seine Anweisungen genau befolgte, würde man (laut Marcel) zu verschiedenen Stufen der Erleuchtung geführt werden, obwohl es klar war, dass man niemals die Stufe der Erleuchtung erreichen würde, auf der Marcel angelangt war.
Hätte ich mir mehr Zeit genommen, um die Konzepte, die Marcel präsentierte, sowie den Mann selbst zu hinterfragen, hätte ich mich vielleicht nicht so bereitwillig seiner Gruppe von treuen Anhängern angeschlossen. Aber wenn man auf einer Insel gestrandet ist und sich ein Schiff nähert, fängt man nicht an zu fragen, unter welcher Flagge es fährt; man geht einfach an Bord. Mit dieser Hoffnung im Gepäck machte ich mich also auf den Weg, um Marcel zu treffen.
Marcel war ein gut aussehender afroamerikanischer Mann: groß, charismatisch und, zumindest oberflächlich betrachtet, sehr selbstbewusst. Es war schwer vorstellbar, dass Marcel sich von irgendetwas aus der Ruhe bringen ließ. Er zögerte nicht, dich wissen zu lassen, dass er viele Ebenen der Realität gemeistert habe und im Besitz von geheimem und verborgenem Wissen sei, in das nur wenige eingeweiht seien. Dieses Wissen, so betonte er, dürfe nicht mit anderen geteilt werden, bevor sie nicht richtig darauf vorbereitet wären, es zu empfangen; andernfalls könnte dies sehr gefährlich sein. Marcel zog vor allem junge Leute an, und im Nachhinein kann ich ehrlich sagen, dass Marcel tatächlich ein Meister war: ein Meister darin, die Unsicherheiten und Ängste anderer Menschen auszunutzen. Gefühle der Hoffnungslosigkeit in Kombination mit geringem Glauben an den eigenen Wert waren ein perfektes Rezept für Marcel, und er wusste genau, wie er die Zutaten mischen musste.
Marcel hatte die Absicht, eine Schule zu eröffnen, eine Elite-Armee von metaphysischen Lehrern zu schaffen und sie dann auf die Welt loszulassen, um die „unwissenden Massen“ zu belehren und ihre armseligen Seelen zu retten. Aber nicht alle Schüler, die unter Marcel studierten, würden ausgewählt werden, um Teil dieser exklusiven Armee zu werden.
Eines Tages hörte ich durch die Gerüchteküche, dass ich nicht zu den Auserwählten gehören würde. Ich wusste es zwar nicht genau, aber die Möglichkeit, ausgeschlossen zu werden, machte mich sehr unglücklich.
Während meines sechsten Schuljahres war eines Tages bekannt gegeben worden, dass die Klassen auf eine neue Art und Weise aufgeteilt werden sollen. Für diejenigen, deren Intelligenz über der Norm lag, wurden spezielle Klassen eingerichtet, die „SK“ genannt wurden.
Es wurden keine Tests durchgeführt und es wurde kein spezifisches Kriterium genannt, um zu erklären, wie die Schule zu einer Entscheidung kommen würde, wer sich für SK qualifiziert und wer nicht. Die Eltern erhielten einfach einen Brief von der Schulleitung, in dem stand, ob ihr Sohn oder ihre Tochter in das SK-Programm aufgenommen worden war oder nicht. Alle warteten mit Spannung auf diesen Brief.
Ich weiß noch, wie schrecklich ich mich fühlte, als meine Eltern mir mitteilten, sie hätten einen solchen Brief erhalten und dass ich nicht zu denen gehören würde, die zur Teilnahme am SK-Programm eingeladen wurden. Und ich fühlte mich nicht viel besser, als meine Eltern zwei Wochen später einen weiteren Brief von der Schule erhielten, in dem stand, dass man sich nun doch entschieden hatte, mich aufzunehmen. Ich wusste, dass mehr dahinter steckte, als man auf den ersten Blick sah, und ich vermutete, dass es wahrscheinlich ein Problem bei der Belegung einiger Klassen gab - weshalb meine neu entdeckte Intelligenz auf wundersame Weise in Erscheinung getreten war.
Wenn man sich für ein Schulteam oder eine Schulaufführung bewirbt und es nicht schafft oder nicht in eine spezielle Gruppe aufgenommen wird, ist das schon eine Pille, die man nur schwer schlucken kann. Aber nicht in Marcels Schule aufgenommen zu werden, würde auch bedeuten, keinen Zugang zu dem geheimen Wissen zu erhalten, von dem er so oft sprach, und der Gedanke daran war für mich zu schwer zu ertragen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und beschloss, Marcel anzurufen, um herauszufinden, ob dieses Gerücht stimmte.
Marcels Stimme am anderen Ende der Leitung hörte sich an, als ob sie direkt in meinem Kopf wäre. Er teilte mir in herrischer Manier mit, dass ich aus folgendem Grund nicht in seine Schule aufgenommen werden könne: Ich sei von irgendeinem dämonischen Wesen besessen.
Das fühlte sich viel schlimmer an, als sich nicht für die SK-Klassen zu qualifizieren. Seine Worte spiegelten meine schlimmsten Befürchtungen über mich selbst wider - vielleicht stimmte mit mir wirklich etwas grundsätzlich nicht und ich war irgendwie nicht richtig zusammengesetzt worden. Vielleicht hatte einer der Mechaniker beim Zusammenbau die falsche Schraube oder den falschen Bolzen erwischt, und als der Fehler entdeckt wurde, war ich bereits verschweißt, und es war einfach zu spät, etwas dagegen zu tun.
Wenn ich an Marcels Ausspruch vor all den Jahren zurückdenke, fühle ich mich für mein neunzehnjähriges Ich schuldig, das eine solche Aussage so bereitwillig und ohne zu hinterfragen akzeptiert hatte. Aber wenn man anfing, irgendwelche Handlungen oder Aussagen von Marcel in Frage zu stellen, lief man Gefahr, dass das ganze Kartenhaus in sich zusammenfiel, ein Risiko, das ich einfach nicht bereit gewesen war einzugehen.
Marcel warf mir jedoch einen Knochen zu. Er sagte mir, dass ich, obwohl ich nicht Teil seiner Schule sein dürfe, seine Philosophie von außen weiter studieren könne, und dass ich ein gewisses Maß an Erleuchtung finden würde, wenn ich bestimmte Bücher in der Reihenfolge las, die er mir vorgeben würde. Ein gewisses Maß an Erleuchtung klang viel besser, als weiterhin im Dunkeln zu tappen, und so war ich entschlossen, dem von ihm vorgegebenen Weg zu folgen.
Dann, in der zweiten Hälfte des Jahres 1970, begann sich der Wind zu drehen.
KAPITEL 2
EINE TÜR GEHT AUF
Eine der Schülerinnen, die bei Marcel studierte, stieß auf ein Buch mit dem Titel Das Seth-Material von Jane Roberts. Obwohl dieses Buch nicht auf Marcels Bücherliste stand, begann sie, ihren Mitschülern davon zu erzählen. Wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann, dass Mundpropaganda eine der mächtigsten Kräfte auf der Erde ist, und so sprach sich dieses Buch schnell herum.
Sofort wurde Marcel pflichtbewusst gefragt, ob wir diesen Titel auf seine Leseliste setzen könnten. Er stimmte dieser Bitte zu, ließ aber geflissentlich die Tatsache aus, dass er Jane Roberts bereits mehrfach telefonisch kontaktiert und um einen Besuch bei ihr gebeten hatte, wovon Jane aber nichts wissen wollte. (All das sollte ich erst viel später erfahren.)
Jane sah Marcel nicht als einen verwandten Geist, sondern als ein selbstverblendetes Individuum an. Seine Art von esoterischem Wissen war durchtränkt mit Vorstellungen und Einschränkungen, die den Konzepten, die Jane präsentierte, völlig entgegengesetzt waren.
Während er uns also erlaubte, Janes Buch zu lesen, scheute Marcel keine Mühen, uns wissen zu lassen, dass Jane spirituell nicht sehr weit entwickelt sei und nicht ernst genommen werden sollte. Marcel befand jedoch, dass Seths Existenz das Buch lesenswert mache, da er behauptete, Seth entspräche eher dem Niveau metaphysischer Weisheit, das er selbst erlangt hatte.
Ich kann nicht genau sagen, wann ich 1970 das erste Mal Das Seth-Material in die Hand nahm, aber nachdem ich nur ein paar Seiten gelesen hatte, spürte ich, dass etwas passierte. Es war, als ob ein Teil von mir, der jahrhundertelang geschlafen hatte, zu erwachen begann. Obwohl ich immer noch in Marcels Bann stand, wollte ich zu einer dieser Klassen gehen, über die Jane schrieb.
Im Sommer 1971 beschloss ich, ihr einen Brief zu schreiben und zu fragen, ob es möglich wäre, an einer ihrer Klassen teilzunehmen. Jane schrieb zurück, dass ich vorbeikommen könne, wenn ich an einem der Abende, an denen sie die Klasse durchführte, in der Gegend wäre. Sie bat mich nur darum, ihr vorher Bescheid zu geben.
Das klang für mich absolut fair. Ich erzählte Marcel vom Brief, den ich Jane geschickt hatte, und von ihrer Antwort, und ich fragte ihn, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn ich eine von Janes Veranstaltungen besuchen würde, und er sagte ja.
Sommer und Herbst vergingen in diesem Jahr schnell, und Anfang Dezember hielten eisige Winde New York City wieder einmal in ihrem Griff. Als die Temperaturen wirklich zu sinken begannen, packten sich die Menschen so fest ein, dass der einzige sichtbare Teil ihres Körpers die Augen waren - der einzige eindeutige Beweis dafür, dass die Kreatur, die einem entgegenkam, von der menschlichen Sorte war.
An einem dieser Winterabende saß ich an meinem Küchentisch und genoss eine heiße Schüssel Erbsensuppe, als das Telefon klingelte. Die Nachricht, die meine Ohren erreichte, verschlug mir den Atem, und für ein paar Augenblicke spürte ich, wie mein Bewusstsein schwankte. Der Anrufer informierte mich, dass Marcel früher am Tag auf der Straße tot umgefallen war. Weitere Informationen gab es zu diesem Zeitpunkt nicht.
Das schien einfach nicht möglich zu sein. Marcel war erst in seinen Vierzigern, extrem energiegeladen, voller Leben. Wie konnte das sein? Aber es war so. Marcel war auf einer dieser kalten und verschneiten Straßen von New York City tot umgefallen und niemand wusste mit Sicherheit, was die Ursache war. Wie so viele Dinge im Leben, war dies ein weiteres Mysterium ohne eine schlüssige Antwort.
Und wie so oft, wenn eine Leitfigur stirbt, eilen andere herbei und versuchen, die Lücke zu füllen. Gelegentlich ist die richtige Person in der Lage, die Dinge am Laufen zu halten, aber dies war keine dieser Gelegenheiten.
Mit Marcels Tod fielen die Dinge schnell auseinander. Seine junge Armee von erleuchteten Soldaten ging bald getrennte Wege und verschmolz mit der anonymen Masse, deren unwissende Seelen sie eines Tages hätten retten sollen.
Was mich betrifft, so gefiel mir die Vorstellung überhaupt nicht, dass meine spirituelle Suche so abrupt zu Ende ging. Ich dachte daran, Jane einen weiteren Brief zu schreiben, aber mein Freund Jeff, der ebenfalls ein Anhänger von Marcel war, wollte Jane direkt kontaktieren. Dank Jeffs Bemühungen stimmte Jane zu, uns in der ersten Januarwoche 1972 an einer ihrer Klassen teilnehmen zu lassen.
Das Leben hat eine lustige Art, Türen zu öffnen, wenn wir es am wenigsten erwarten, und obwohl der Tod von Marcel sicher nicht lustig war, öffneten sich Türen. Es gab nur eine dringende Frage, die eher früher als später beantwortet werden musste: Wo zum Teufel lag Elmira überhaupt?