Leseprobe aus
TRÄUMENDES ICH, TRÄUMENDE STADT
von Susan M. Watkins
KAPITEL 1
VON ZWEIFELHAFTEN JÜNGERN, KAUDERWELSCH UND GEISTERN
„Ich höre auf“, sagte ich. „Ich werde kein weiteres gottverdammtes Ding mehr schreiben!“
Aus dem Briefumschlag des Verlegers fiel ein Dutzend Rezensionen meines ersten Buches Im Dialog mit Seth: Die Geschichte von Jane Roberts‘ ASW–Klasse. Zehn dieser Rezensionen waren großartig – sie sagten nicht nur nette Dinge über die Talente der Autorin, sie schienen das Thema tatsächlich wertzuschätzen. Aber das bemerkte ich kaum. Die elfte und zwölfte Rezension klatschten wie eine öffentliche Ohrfeige in mein Gesicht.
„Überschwänglich und nachsichtig“ hieß es in einer, und dazu noch: „Susan Watkins war eine der Jüngerinnen [von Jane Roberts], die an jedem Wort hingen, das von Roberts unter dem Deckmantel von ,Seth‘ geäußert wurde…“
Meine Knie wurden weich, mein Mund staubtrocken.
„…und wenn Seth dann sagt, ein alter Knacker auf der Straße sei ein Aspekt von Watkins‘ verstorbenem Großvater, dann schlägt das dem Fass buchstäblich den Boden aus!“, fuhr der Kritiker fort. „Unsinn über Reinkarnation, telepathische Kräfte und Ähnliches – dem durch einen Geist zweifelhafte Autorität verliehen wird.“
Schmach umfing mich wie eine erstickende Decke. Keine der anderen sehr positiven Kritiken existierte – nur gerade diese beiden hier. Es tat nichts zur Sache, dass die negativen Kritiken die Ereignisse im Buch ungenau beschrieben und das Thema völlig verfehlten; sie trugen den missbilligenden Stempel des literarischen Establishments auf sich, und ich war einfach nur am Boden zerstört. Sollte ich mich genau wegen jenes Punkts schuldig fühlen, der für mich den Unterschied zwischen dem Seth–Material und Janes ASW–Klassen ausmachte? War tatsächlich eine geisterhafte Gurumentalität in jene Dienstagabende hineingekrochen? Hatte ich Jane/Seth die Macht über mein Ichbewusstsein gegeben? Saßen wir alle dort und saugten begierig irgendwelche alten metaphysischen Metaphern auf, einfach nur, weil sie auf eine geschickte und gut verständliche Art präsentiert wurden? Waren mir alle Gottesmythen in meiner Kindheit erspart geblieben, nur damit ich nun als Erwachsene Seth auf diesen Thron stellen konnte?
Als ich Im Dialog mit Seth schrieb, wollte ich mich nicht mit derartigen Fragen abgeben. Ich verfasste ja schließlich eine Chronologie, und mich dabei darüber auszulassen, was zum Teufel wir dort zu tun glaubten, schien der Sache überhaupt nicht angemessen zu sein. Trotzdem war es eine Tatsache, dass sich Seth für mich zu einem größeren symbolischen Ereignis entwickelt hatte – symbolisch für das, was ich in mir selbst und in der Welt als Ganzes als das Erscheinen einer neuen Persönlichkeit sah.
Trotzdem war es furchterregend für mich zuzugeben, und das auch noch öffentlich, dass ich an die von Seth vertretenen Konzepte glaubte und demnach auch Seths Ursprung nicht nur als gültig, sondern auch als wahr betrachtete.
Ich war als Einzelkind in einer Familie aufgewachsen, die sich hämisch und geistreich über alles lustig machte, das auch nur im Entferntesten einen Beigeschmack von Religion oder Mystizismus hatte – trotz (oder vielleicht genau aufgrund) der mystischen Erkenntnisse und der geheimnisvollen Empfindungen, die meine Eltern während ihres ganzen Lebens verspürten (und von denen sie oft sprachen).
Deshalb waren diese Rezensionen für mich ein doppelter Schlag. Obwohl meine Eltern überraschend zurückhaltend über meine Freundschaft mit einer Frau waren, welche die halbe Zeit vorgab, jemand anderer zu sein und dann Bücher darüber schrieb, glaubten sie offensichtlich, dass ihre Tochter auf irgendeine Art von religiösem Schmäh der schlimmsten Art hereingefallen war. Wann immer jedoch das Thema zur Sprache kam, sagte mein Vater: „Finde doch einfach mal heraus, was zum Teufel mit Zeus geschehen ist!“ Erst viel später verstand ich, wie unmittelbar direkt diese Frage wirklich war.
„Es ist die Suche nach Gott oder nach neuen Göttern“, sagte Jane eines Tages zu mir, als wir über meine Ideen für dieses Buch sprachen. „Vor nur fünf Jahren hätte ich das nicht sagen können – es wäre viel zu schrecklich gewesen, es auszusprechen. Aber es ist nur natürlich, sich nach neuen Göttern umzusehen, wenn die alten abgenutzt sind. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder einmal für unsere menschlichen Charaktereigenschaften einzutreten“, fügte sie hinzu.
Deshalb konnte ich in gewisser Weise dem sogenannten literarischen Establishment keinen Vorwurf machen, weil es meinem Buch gegenüber misstrauisch war. Im Reich von ASW, Präkognition, Träumen und anderen damit verbundenen Dingen gibt es nur wenige Leitlinien und nicht viel gesunden Menschenverstand. Die meisten der in den sogenannten „okkulten“ oder „spiritistischen“ Bereichen geschriebenen Bücher waren meiner Meinung nach wertloser Unsinn – genauso wie alle Abhandlungen, die jede subjektive Erfahrung als „unwissenschaftlich“ entlarvten.
Es war zweifellos ein Dilemma, und es war nicht die Aufgabe der Kritiker, es zu lösen. Sie nehmen, was ihnen zugeteilt wird und beurteilen es nach bestem Wissen und Gewissen, so wie ich das auch tat. Die wirkliche Frage bestand deshalb für mich darin, wie ich lernen könnte, meinen Gedanken als wertvolles Gut für diese Welt zu vertrauen und mir keine Sorgen über die Reaktionen derjenigen zu machen, die einfach nur versuchten, ihre eigenen Antworten zu finden.
Es war mir nun klar, dass ich mich nicht auf die Anerkennung der literarischen oder irgendeiner anderen Hierarchie verlassen konnte. Ich musste meinen eigenen Standpunkt und meine eigene Quelle der Anerkennung finden, wenn es das war, was ich suchte; mein eigenes Netzwerk von Rückmeldungen und Wertschätzung. Aber wo?
1973, ein Jahr, nachdem der Hurrikan Agnes die Chemung– und Susquehanna–Flusstäler überflutet hatte, zog ich aus meiner Wohnung in Elmira nach Dundee, einer Kleinstadt, die 60 km nördlich und etwa 300 Meter höher als Elmira liegt und wo ich aufgewachsen bin. Ein Jahr später begann ich als Mitherausgeberin, zusammen mit der Besitzerin (und einzigen Mitarbeiterin) Susan Benedict bei der Wochenzeitung Dundee Observer zu arbeiten.
Susan ist in Dundee geboren und aufgewachsen. Wir beide verbrachten die folgenden sechs Jahre damit, über lokale Neuigkeiten und Nachrichten zu berichten (meistens kommunale Ereignisse und Angelegenheiten), sie aufzusetzen, abzutippen, zusammenzukleben, das Ganze zum Drucker ins nahegelegene Canandaigua zu bringen, daraufhin 2000 Exemplare zu adressieren und zu verschicken, und manchmal konnten wir sogar ein paar Inserate verkaufen. Mit dieser Arbeit schafften wir es, in Dundee ein ziemlich schrilles Image zu bekommen, dabei aber auch einen oder zwei Preise der New York Press Association zu gewinnen und in verschiedenen anderen Ortszeitungen eine basisorientierte Berichterstattung anzuregen.
Im Frühsommer 1978 gab die Radiostation von Dundee bekannt, dass ein national bekanntes Medium, das ich hier Faith Godwin nenne, eine Woche lang über Mittag auftreten und den Anruferinnen und Anrufern mediale Beratungen und Ratschläge durchgeben würde. Das fand ich wirklich seltsam, weil einerseits der Radiochef selbst glaubte, dass alles im Zusammenhang mit parapsychischen Phänomenen einfach nur hormoneller Hokuspokus war („Männer sind logisch, Frauen sind emotional – und deshalb bist du natürlich an diesem Zeugs interessiert“, sagte er mir mehrmals). Andererseits konnte ich es mir einfach nicht vorstellen – damals konnte ich es mir nicht vorstellen – wer aus diesem biederen kleinen Dundee überhaupt anrufen und um derartige Auskünfte bitten würde, dazu noch vor offenem Mikrofon.
Auch wenn niemand seinen Namen nennen musste, würde diese Faith Godwin, wenn sie denn überhaupt so gut war, mit genügend enthüllenden Details direkt und aus vollem Rohr herauskommen, um alle Zuhörer in den fünf angeschlossen Bezirken raten zu lassen, wer genau denn nun damit gemeint war. Aber das wirklich Abscheuliche daran war, dass ich gegen meinen Willen immer noch jenen alten Sirenengesang hörte: Vielleicht, so flüsterte mir eine lästige kleine Stimme von irgendwoher weit hinter meinem gesunden Menschenverstand zu, vielleicht konnte sie mir die Antworten auf diese ewigen Fragen geben; vielleicht, einfach nur vielleicht, würde sie, wenn ich mit ihr sprechen könnte, dort weitermachen, wo Seth aufgehört – und mich auf seine nervende Art auf mich selbst zurückgeworfen – hatte und mir dann sagen…
Natürlich kam es nicht darauf an, wie die Frage lautete – die Antwort musste vom Selbst kommen, sonst war es ja überhaupt keine Antwort, nicht wahr? Das wusste ich. Oder ich dachte, dass ich es wusste. Womit hatte sich Janes Klasse und ihr gesamtes Werk denn sonst beschäftigt, wenn nicht damit? Und hier war ich nun und ließ mich ganz einfach in die Versuchung – nun ja – in die uralte Verlockung fallen, nicht wahr? Und doch, so fragte ich mich, was macht es denn schon aus?
In einer kleinstädtischen Radiostation ein bisschen in diese Grauzone einzutauchen, hat sicher noch nie jemandem geschadet; die Dinge hatten sich seit den Tagen der Quacksalber mit ihren Pferdefuhrwerken ja nicht groß verändert. Vielleicht würde es manchen Leuten sogar einige Türen öffnen, sagte ich zu mir. Immerhin war ich gerade dabei, einen Vertrag für Im Dialog mit Seth zu unterschreiben, ein auf geschäftlichen Erfolg ausgerichtetes Abenteuer – richtig? Die Welt hat genug Platz für alles und alle.
Trotz all dieser versuchten logischen Überlegungen verbiss ich mich jedoch selbst in Widersprüche und Fragen, bis Susan schließlich vorschlug (teilweise um mich ruhig zu stellen und auf die kommunale Erde zurückzuholen), Faith zu interviewen und sie sagen zu lassen, was sie über das alles dachte. Zusätzlich schien das auch eine gute Koppelung mit ihrer Radio–Talkshow zu sein.
Wir machten mit Faith einen Termin in der Radiostation ab, um das Interview mit ihr vor ihrer ersten Sendung durchzuführen und verbrachten dann ungefähr eine halbe Stunde damit, ein paar Fragen zusammenzustellen: Wann haben Sie begonnen, mediale Eindrücke im Radio zu übermitteln? Sind Sie im Land herumgereist, um das zu tun? Verfolgen Sie das, was Sie den Leuten gesagt haben – zum Beispiel, ob es hilfreich gewesen ist oder nicht, ob es wahr geworden ist oder nicht, und so weiter, bis das Ganze zu einer Art Routine wurde und mein unaufhörliches Nörgeln völlig übertrieben schien – bis zum Moment, als wir auf dem Parkplatz des Radiostudios ankamen.
Dort, bei der Studiotüre, stand ein brandneuer Cadillac, direkt aus dem Ausstellungsraum, unbefleckt von Staub und Straßenschmutz – mit dem dazu passenden Nummernschild mit dem Wort PSYCHIC [Medium] in knallig blauen und goldenen Buchstaben, perfekt ergänzt durch die spiegelblanke Blau– und Goldlackierung des Autos.
„Komisch“, bemerkte Susan – aber ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Nein, das war überhaupt nicht komisch – das war eine persönliche Beleidigung. Kein Wunder, dass derartige Bücher so oft als Wahnvorstellungen von Trotteln betrachtet wurden! Schaut doch nur mal, was meine Zeitgenossen da machen!
Ich stand eine Minute lang starrend und knirschend da, aber Susan war anscheinend bereits ganz unbekümmert ins Studio hineingegangen. Und warum sollte sie auch nicht, sagte ich zu mir selbst – was machte es denn schon aus, was irgendjemand auf sein Nummernschild schrieb, Herrgott noch mal?
Ich folgte Susan und versuchte, mich durch dieses emotionale Gestrüpp durchzukämpfen und eine gute objektive Reporterin zu sein.
Faith, eine gut aussehende Frau um die vierzig, stand in einem Nebenraum des Studios neben einem attraktiven Mann mit Filmstarallüren und jener sorgfältig gestylten und frisierten Art, wie sie gewissen wiedergeborenen Fernsehpredigern eigen ist. Er sprach ernsthaft mit Jack, dem Studiochef, über die Organisation eines gewissen Folgegeschäfts nach Faiths Sendezeit: Die Leute würden, so sagte er, mindestens 25 Dollar für eine persönliche mediale Beratung bezahlen, wenn sie Faiths Sendung gehört hätten, und die Radiostation könnte einen prozentualen Anteil davon haben, wenn sie gratis dafür Reklame machen würde.
Seine Stimme war sanft und geschmeidig. Seine Augen ließen nie von Jacks Augen ab, nicht einmal, als Susan und ich das Zimmer betraten. Er war niemand anderer als Faiths Ehemann–Manager, und Ronald Godwin war hier ganz klar am Managen.
Ich bemerkte mit boshafter Schadenfreude, dass Faith ruhig und mit gefalteten Händen dastand, wie eine in sich selbst ruhende Madonna – außer dass da ein wirklich arges Veilchen in ihrem Gesicht prangte, wie man es hierzulande noch kaum je gesehen hatte.
Sie lächelte uns an. „Sie müssen die jungen Damen von der Zeitung sein“, sagte sie mit zuckersüßer Stimme.
Bei diesen Worten wandte Roland seine Aufmerksamkeit von Jack ab und konzentrierte sich auf uns.
„Die Zeitung?“, fragte er. Er rieb sich buchstäblich die Hände. Man konnte sehen, wie die Werbemöglichkeiten durch seine Augen rollten wie die Nummern bei einem Spielautomaten. Ich brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass „die Zeitung“ ein achtseitiges Wochenblatt war, das im Korridor eines Mehrfamilienhauses von nur gerade uns beiden verfasst, zusammengestellt und getippt wurde.
„Ja, in der Tat“, entgegnete ich fröhlich. „Wir haben einen Interviewtermin mit Faith.“
„Das ist ausgezeichnet“, sagte Roland, „aber bevor Sie damit beginnen, möchten Sie vielleicht gerne etwas darüber hören, was Jack und ich hier aufgegleist haben.“ Er wandte sich an Jack, der wie hypnotisiert wirkte. „Schauen Sie, Faith kann keine medialen Beratungen am Mikrofon machen, es ist einfach nicht genug Zeit, um auf alle Eindrücke einzugehen, die sie aufnimmt, und deshalb haben wir dieses Pauschalangebot zusammengestellt, das für Sie beide wahrscheinlich auch vorteilhaft wäre. Es ist nämlich so, dass Faith diese wöchentliche Kolumne über mediale Themen schreibt, und Sie könnten das dann veröffentlichen…“
„Moment mal“, sagte ich und unterbrach ihn. Schweigen erfüllte den Raum.
„Ja, was denn?“, drängte mich Roland ungeduldig weiter. Ich schaute zu Susan hinüber. Sie hob ihre Augenbrauen und seufzte, unser vereinbartes Signal.
„Nun, wir sind noch nicht einmal beim Interview angelangt“, fuhr ich lächelnd fort.
„Oh, ich bin sicher, das wird bestimmt ganz ausgezeichnet laufen“, sagte Roland und lächelte und lächelte und lächelte. „Sie können sich natürlich vorstellen, nicht wahr, dass Faith normalerweise einen Vorschuss für Interviews bekommt. Dass sie eine Grundgebühr dafür berechnet.“
Jack kicherte nervös. Die Luft im Zimmer wurde dick wie Wolle. Ein Vorschuss, um ein Medium zu interviewen, das den Menschen helfen möchte? Ein 25 Dollar-Lockvögelchen auf den Radiowellen für ein Pauschalangebot, das dann in unsere Hälse gestopft wurde?
„Sie müssen wissen“, warf Roland hier plötzlich ohne irgendeinen Grund ein, „meine Gattin brachte eine Frau dazu, in ihr Höschen zu pinkeln.“
„Sie hat was gemacht?“, platzte Susan heraus.
„Sie brachte eine Frau dazu, in ihr Höschen zu pinkeln“, säuselte Roland und wandte sich an mich. „Sie übermittelte dieser Frau eine mediale Botschaft, und die Frau glaubte nicht an das, was Faith sagte, und deshalb brachte Faith eine Kommodenschublade dazu, von selbst auf– und zuzugehen, und die Frau sah das und machte sich in die Hose.“
Noch mehr Schweigen. „Fantastisch“, sagte ich lahm. Ich wollte einfach nur weg von hier und nach Hause, aber in diesem Moment begann Faith endlich zu sprechen. „Oh, das geht schon in Ordnung, mein lieber Roland, es dauert ja nur eine Minute“, zwitscherte sie. „Du kannst mit den Damen später über andere Dinge sprechen.“
Ich zog mit eiskalten Fingern mein Notizbuch aus der Tasche, während alle Augen im Zimmer auf mich gerichtet waren. (Jack benutzte diesen Moment, um aus dem Zimmer zu fliehen und im Korridor zu verschwinden.) „Nun“, sagte ich, „ich würde sagen, meine erste Frage lautet, wie Sie damit begonnen haben, Eingebungen über die…“
Faith nahm einen plötzlichen tiefen Atemzug und griff an ihre Stirn. „Nur einen Augenblick“, flüsterte sie, „ich empfange gerade etwas.“
Und das Schlimmste in diesem Moment war, dass sich da ein erwartungsvolles Prickeln in meinem Nacken ausbreitete. Eine Eingebung, dachte ich, heiliger Strohsack, da kommt es! Die Antwort, die den Vorhang aufreißt, mir alles sagt, was ich je wissen wollte, mir die Identität meiner eigenen wahren Liebe enthüllt, mich über meinen bevorstehenden Ruhm und Reichtum informiert, mir etwas Geheimnisvolles und Wahres sagen wird…
Oh hör auf!, jaulte mein nettes, treues, vernünftiges Selbst auf. Das ist pure Kinderkacke, und vergiss das ja nicht!
„Ich sehe jemanden“, murmelte Faith. „Ich sehe eine ältere Frau, möglicherweise eine Großmutter. Sie hat blaue Augen und einen rosigen Teint und weißes krauses Haar. Sie steht neben Ihnen und sie möchte Ihnen sagen, dass sie Sie liebt.“
Faith schaute auf.
„Das ist alles“, sagte sie. Ich lachte. Ich dachte ganz ehrlich, dass sie mich auf den Arm nahm. „Oh toll“, sagte ich, „das ist lustig.“
„Was ist lustig?“, knurrte Roland bissig. Er wich Faith nicht von der Seite und starrte mich wuterfüllt an.
„Na ja“, stotterte ich, „ich meine, schaut mich doch mal an und sagt mir, wie schwierig es ist herauszufinden, dass meine Großmutter blaue Augen, krauses Haar und einen rosigen Teint hatte.“
Sie starrten mich einfach nur an.
„Uhh, es ist eben das Irische in uns und so“, sagte ich und machte alles nur noch schlimmer. „Ich glaube, wir machen nun lieber mit dem Interview weiter“, unterbrach Susan und nahm mir den Stift und das Notizbuch aus der Hand. „Sagen Sie uns also – wann hat das alles bei Ihnen angefangen? Wie alt waren Sie damals?“
Faith starrte mich kurz an. „Sie sind auch ein Medium – ich sehe es immer in den Augen“, sagte sie und wandte sich dann an Susan für das Interview. Roland steckte sich eine Zigarette zwischen die Zähne und behielt mich ständig im Auge; es war unübersehbar, dass er mich am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte.
Wie es sich herausstellte, brachte ihm niemand von uns Glück, denn weder Jack noch Susan noch ich gingen auf sein Pauschalangebot ein. Aber ich konnte sehen, dass Roland sich durch meinen Skeptizismus bis zur Kampfansage betrogen fühlte. Seine Botschaft war deutlich: Misch dich nicht in den psychischen Spielplan ein, Schwester – die Leute wollen das hören und sie kaufen es um jeden Preis, also zieh Leine!
Aber das Verrückte war ja, dass sie mir eine Sekunde, nur gerade eine Sekunde lang, fast das Gesamtpaket verkauft hätten, weil sie auf das psychische Bauchgefühl losgegangen waren – auf die Verletzlichkeit von uns allen: unseren Wunsch zu wissen, zu verstehen, eine Antwort auf alle Rufe der menschlichen Seele zu finden.
Als ich Faith dann während der ganzen Woche im Radio zuhörte, erkannte ich tatsächlich, dass sie trotz des schmierigen Showgeschäft–Umfelds wirklich einige echte Fähigkeiten hatte. Es stellte sich heraus, dass sie der Polizei an ihrem Wohnort geholfen hatte, zahlreiche Verbrechen zu lösen, einschließlich eines Mordfalls und einer Entführung – und das alles gratis (wie sie sagte). Und die Radiosendung bekam so viele Anrufe, dass Jack das Programm täglich für eine halbe Stunde verlängerte. So hat sie sich vielleicht dieses schreckliche Nummernschild wirklich verdient, aber weshalb musste das alles als Jahrmarkt stattfinden, samt Marktschreier und Lockvogel?
Natürlich erinnerte ich mich auch daran, dass Jack Reklame für Faiths Wochenshow machte und dass auch der Observer in jener Woche ein paar zusätzliche Exemplare verkaufte. Somit ergab sich daraus auch ein geschäftlicher Nutzen für uns alle.
Was mir jedoch bei alledem so billig erschien, war das Ausnutzen verzweifelter Sehnsüchte – aber bei der schieren Masse der Telefonanrufe im Radiostudio schien es den Menschen nichts auszumachen, ausgenutzt zu werden, oder sie sahen darin nur die Möglichkeit, etwas zu erhalten, das sie sonst wahrscheinlich nicht bekommen würden. Im Umkreis dieses kleinen Städtchens gingen sie das Risiko ein, sich bei ihrer Suche nach neuen Antworten am Mikrofon bloßzustellen, weil anscheinend die alten Antworten nicht mehr funktionierten. Das hatte ich in dieser Form niemals erwartet – ich hatte angenommen, dass die durchschnittliche Bevölkerung Faiths Informationen als Quatsch betrachten würde, so wie ich annahm, dass sie auch mich und mein eigenes Buch als Quatsch betrachteten –, außer sie hätten keinen Deut gesunder Skepsis und würden in diesem Fall wahrscheinlich nicht nur Faith akzeptieren, sondern auch jede andere schrullige psychische Pampe und, oh ja, sicherlich sogar auch mich – alles gehörte in die gleiche Kategorie.
An diesem Punkt erkannte ich, dass ich mich auf meine eigene Art bereits im gleichen Topf wie die Verrückten und Quacksalber befand, weil nicht einmal ich genau wusste, wie man das sogenannte „wirkliche“ Zeugs definieren konnte, das ich mit meinem Buch ausdrücken wollte.
Es war also kein Wunder, dass ich zögerte, mich selbst in dieses parapsychische Bücherland hinaus zu begeben. Es war alles so formlos, plump, erfüllt von ausgelutschten Worten und Konzepten, die einfach irgendwie nicht passten oder schlicht idiotisch waren.
Vielleicht war das Problem, dass wir alle in unbekannten Kontinenten herumirrten und niemand wusste, wie man sich auf diesem Pfad verhalten sollte. Ich selbst war schon öfter in die Pfanne gehauen worden, weil ich entweder zu leichtgläubig oder zu abgebrüht war – manchmal von den genau gleichen Leuten. Und später durchlebte ich die gleichen Gefühle stumpfsinniger Unbeholfenheit, wann immer ich gebeten wurde, über mein Buch oder über Jane Roberts‘ Werk zu sprechen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstand, dass es nicht an meiner Unfähigkeit mich auszudrücken lag, sondern an meiner Weigerung, mich der glatten und polierten Schlagworte zu bedienen, die mich vielleicht zu einer besseren Dozentin, aber auch zu einer weniger guten Forscherin gemacht hätten.
Eine der ersten Werbemaßnahmen für Im Dialog mit Seth, die ich von Prentice–Hall aufgetragen bekam, bestand ironischerweise in einer Serie von Interviews in Radiostationen im ganzen Land. Beinahe unweigerlich kamen die an mich gerichteten Fragen, von Moderatoren oder Anrufern, aus zwei sich bekriegenden Gruppen: Entweder wollten die Leute beweisen, dass alle außersinnlich wahrgenommenen Dinge definitionsgemäß keinen Sinn ergaben, oder sie wollten „mediale“ Antworten für alles.
Ein Mann, der sich als Wissenschaftler bezeichnete, informierte mich, dass nichts existiere, was nicht in einem Labor bewiesen werden könne; die unmittelbar darauffolgende Anruferin wollte von Seth wissen, welches „Karma“ sie in ihrem jetzigen Leben hatte. Eine weitere Person wünschte, dass Seth die russischen Telepathen beim Versuch, unsere Raketenstandorte zu finden, stoppte. Eine Programmmoderatorin sagte, dass Jane alles erfunden haben musste, weil das Seth-Material „zu gut“ sei; im nächsten Atemzug beschuldigte sie Jane und mich des Umgangs mit Dämonen, weil Seth (und auch wir alle) Kraftausdrücke verwendeten…
All das war zu verwirrend, um auch nur versuchen zu können, den Durchblick zu behalten. Weit schlimmer war, dass, wann immer mir die unvermeidliche Frage gestellt wurde, wer dieser Seth-Typ denn nun wirklich war, sich mein Mund und vor allem mein Hirn mit Blei füllten. Die Erklärung: „Eine Energieessenzpersönlichkeit, die nicht mehr länger in der physischen Realität fokussiert ist“, brachte überhaupt nichts – hieß das, dass Jane Roberts für einen Geist sprach? Na gut, nein, die Vorstellung von „Geist“ und „Totsein“ ist einfach zu beschränkt und… Hieß das dann, dass Jane Séancen durchführte wie Madame Blavatski? Um Himmelswillen nein!
Jane war vor allem eine Schriftstellerin, die hervorragende Kunstwerke produzierte, im Gegensatz zur Mehrheit der, in Anführungszeichen, „Medien“, die nie etwas hinterfragten…
Dann sprach Jane also nicht in Trance für eine tote Person? Nun gut, ja und nein, irgendwie, außer dass, na ja, gut, wenn man sich Seth vielleicht als eine zukünftige Jane vorstellt, uhh… Und welche Art von Behauptungen machte denn dieser Seth überhaupt? Na ja, uhh, bitte verstehen Sie, dass ich nicht für Seth oderJane spreche und dass wir hier eigentlich über mein Buch reden, aber niemand hat irgendwelche Behauptungenaufgestellt, denn sehen Sie, das Seth–Material ist eigentlich eine philosophische Annäherung an… Wirklich? Hatte Jane nicht behauptet, für den Geist eines Toten zu sprechen?…
Es war unendlich frustrierend. Aber ich fand, dass ich das Geben und Nehmen trotz aller Schwierigkeiten genoss. Zumindest stellten die Leute exzentrische Fragen; zumindest lief hier eine gewisse Art von Dialog ab, der wahrscheinlich nirgendwo anders hätte stattfinden können – wie hätte man denn auch in der Schule die Hand heben und fragen können, wie das Sprechen für einen Toten funktioniert, oder um die Fokussierung (oder nicht) auf die physische Realität lauthals zu hinterfragen?
Vielleicht verlangte ich zu viel von den Leuten. Wo konnte denn letzten Endes inmitten dieses lauten psychologischen Dramas der Durchschnittsmensch – die ganz gewöhnlichen menschlichen Wesen, die ihr tägliches Leben lebten – praktische, vernünftige Antworten auf außergewöhnliche Fragen finden? Und wie lernt man, irgendwelche verfügbaren Informationen auszuwerten? Wie findet man neue Bezugssysteme inmitten von Chaos und gebrauchsfertigen Definitionen?
Und das war es dann. Bei Gott, dachte ich, warum meinen wir denn, wir müssten überhaupt irgendwohin gehen? Warum nicht einfach Faith Godwin aus dem Fenster werfen und uns darauf verlassen, dass wir alle dieses Wissen besitzen, das wir so inbrünstig suchen? Während Jahren hatte ich zum Beispiel meine eigenen Träume aufgeschrieben – und begriff nun endlich, dass ich ihren Einsichten bedingungslos vertrauen konnte, einfach nur, weil meine Träume nicht zuletzt ein Ausdruck meines Wesens waren, meines Selbst. Es war völlig egal, wenn gewisse „Autoritäten“ dem nicht zustimmten. Und aus war auch egal, wenn standardisierte Traumanalysen nicht zutrafen.
Also gut, dachte ich, dann muss es irgendeinen Weg geben, um den Leuten ein für allemal aufzuzeigen, dass das Wissen, das sie stets anderen zuschreiben, ihnen gehört, wenn sie darum bitten; dass es ganz natürlich von innen kommt und dass es, wenn nötig, dokumentiert, aufgeschrieben, überprüft – was auch immer – werden kann. Dass das Wissen so natürlich ist wie das Atmen. Dass wir viel zu viele Jahrhunderte damit verbracht hatten, dieses Wissen auf Autoritäten außerhalb von uns zu übertragen: auf Götter jeglicher Art, Orakel, Medien, Wissenschaft, Politik, Medizin, Eltern, Freunde, Therapeuten, Mystiker, Verrückte – auf wen auch immer; auf Jane und Seth und sogar auf mich (na ja, vielleicht nicht auf mich, aber man weiß ja nie).
Und ich hatte es satt! Ich hatte wirklich genug! Ich war all dieser dumpfen Dickköpfigkeit müde, einschließlich meiner eigenen. Ich würde mich durch diesen ganzen Mist hindurchkämpfen und das „natürliche Wissen“ aufdecken, von dem ich wirklich glaube, dass es in uns allen steckt; das Wissen, das unser individuelles, ganz persönliches Leben formt und an das wir uns jederzeit wenden können (und das auch tun, auch wenn wir seinen Ursprung außerhalb von uns ansiedeln). Das Wissen über die Zukunft, über die Vergangenheit und über die wunderbare Mischung der Gegenwart. Immer. Unantastbar.
Und zu meiner Überraschung landete ich dann dabei, in die Träume von Dundee zu spähen.